Sonntag, 21. Juni 2015
Stifters "Narrenburg"
Stifters Narrenburg war meine erste Begegnung mit Adalbert Stifter als Schriftsteller. Ich hatte bis dato Stifter „nur“ als Maler kennengelernt. Um so eindrucksvoller entpuppte sich meine Entdeckung der erzählten Welt Stifters.
Bucheinband: Adalbert Stifter Narrenburg von 1921
Zu Beginn der Erzählung steht ein skurriles Testament. Der Ahnherr Hanns von Scharnast hat verfügt, dass alle seine männlichen Nachkommen, die ihn beerben wollen, von sich eine Lebensbeschreibung verfassen müssen. Jeder Nachkomme ist zudem verpflichtet, vor Antritt des Erbes alle Biographien seiner Vorfahren zu lesen. Ziel dieser Testamentsklausel ist es, aus den Fehlern der Vorfahren zu lernen und sie zu vermeiden, damit das Scharnast'sche Erbe sich vermehrt und über die Generationen erhalten bleibt.

Die Binnenerzählung setzt ein, als von der Scharnast'schen Rothenburg nur noch eine scheinbar verwunschene Ruine in den Wäldern existiert. Das Testament - bereits zu Beginn ein völlig irsinniges Unterfangen – stellt sich nun als entgültig fehlgeschlagen heraus. Denn alle Scharnast-Erben haben sich in ihrer Verrücktheit zwar baulich in der Burg verewigt – angefangen von griechischen Tempeln bis hin in zu ganzen Gemäldegalerien – haben aber bis auf das Ausleben ihres Narrentums nichts hervorgebracht. Und was wird nun aus der Narrenburg?

Auf der Bildfläche erscheint Heinrich. Heinrich ist ein Sonderling und Außenseiter. Er verbringt seine Zeit damit, Steine und Pflanzen zu sammeln. Heinrich stößt bei seinen Streifzügen durch die Fluren und Auen auf eben jene Narrenburg. Er setzt sich in den Kopf, sich zu diesem abgeschlossenen Gemäuer Zutritt zu verschaffen. Bewacht wird die Narrenburg von einem alten Diener der Scharnasts. Der Diener legt ein sonderbares, prophetisches Verhalten im Angesicht Heinrichs an den Tag. Heinrich stellt sich als letzter unbekannter Nachfahre der von Scharnasts heraus.

Als Leser ist man immer versucht, im nächsten Moment auf den Showdown zu treffen. Im Text gibt es zahlreiche Spannungsmomente und Anspielungen, die nahelegen, dass sich Heinrich als verschollener Nachfahre genauso sonderbar und verrückt verhalten wird wie seine Vorfahren. Doch nichts von diesen Erwartungen erfüllt sich am Ende. Dass man als Leser dennoch nicht enttäuscht ist, liegt an der Vielfältigkeit, mit der man diese Erzählung lesen kann.

Man kann diese Erzählung mit ihrer Rahmung als Anti-Bildungs-Erzählung lesen. Da man als Leser den erfolgreichen Lebens- und Bildungswegs Heinrich mitverfolgt, ist die Erzählung gleichzeitig jedoch auch die Bestätigung jenes Genres. Da Heinrich selbst erfolgreich die Bildung der weiblichen Figuren in die Hand nimmt, ist die Narrenburg auch eine Art Erzählung über Erziehung. Sie ist genauso eine verkappte Gothic Novel wie eine romantische Liebesgeschichte. In den zahlreichen Beschreibungen der abendländischen Kunst- und Gemäldetradition kommt nicht nur Stifters multiple Begabung als Schriftsteller und Maler zur Geltung. Stifter reflektiert in der Kunst ihren bewahrenden und integrativen Charakter von Fremdheit und Exotik in ein vertrautes kulturelles System.