Adalbert Stifters Wilde Mädchen - Was passiert, wenn man gebildet wird?
Stifter hat in seinen Erzählungen die Narrenburg, Katzensilber und der Waldbrunnen stets das integrative Moment von Bildung vor Augen. Jedoch ist das Ergebnis jenes Bildungsprozesses in allen drei Erzählungen ein anderer.
Chelion als exotischer Import aus dem entlegenen indischen Subkontinent kann erst nach ihrem Tod – konserviert in Bildern – zumindest in der Vorstellung zur fremden Kultur hin geformt und gebildet werden. Der künstlerisch bildende Prozess führt nicht nur dazu, dass in dem Bild Chelions ihre exotischen und fremden Züge bewahrt werden. Der artifizielle Bildercode einer fremden Kultur ermöglicht vielmehr Chelions postume Integration in die Fremde:

„- aber, was sie sahen, war nicht zum Entsetzen, es war eher lieblich und schön: eine kleine weibliche Figur war auf dem Bilde gemalt, wie ein Kind in sanfter Trauer, und doch wie ein vermähltes glühendes Weib. Ueber dem schwarzen Seidenkleide hielt sie ein lichtes Antlitz, so seltsam und schön, wie eine Blume über dunklen Blättern. Die kleine weiße Hand lag auf dem Marmor und spiegelte sich drinnen. Die Augen sahen fremd und erschreckt. Zu ihren Füßen, als friere er, schmiegte sich ein Goldfasan.“

Aufgrund Chelions form-bildender Rekonzeptualisierung wird der erfolgreichen Integration ihrer Enkeltochter Pia durch Heinrich der Weg bereitet. Denn die unüberwindliche Hürde einer exotischen Wildheit ist bereits in Form eines vertrauten Bildercodes gebannt:

„Und in der Lichtflut dieser Fenster stand, in die dunkle Ebene des Serpentins gerahmt, eine ganze Reihe der herrlichsten Bilder: es waren sämmtliche Scharnast, Männer, Frauen und Kinder, von Haupt- und Seitenlinien – und wie der erste Blick zeigte, von den besten Meistern gemalt. Man sah selbst Rubens und Van Dyks Pinsel, die besten Deutschen, und sogar den Spanier Murillo.“

Im Falle des braunen Mädchens aus Stifters Katzensilber und Juliana aus der Erzählung Waldbrunnen geht es weniger um die Integration eines exotischen Moments durch Bildung als vielmehr um die Integration von Natur und mythischen Volksglaubens in eine zunehmend moderner werdende Welt. Wie Goethes Mignon vereint Stifters braunes Mädchen und Juliana ihre Funktion als poetologische Reflexionsfiguren. Beide figurieren einen Glauben an den Mythos, an die Natur und an alles Märchenhafte. Auch wenn sich die Funktion der beiden weiblichen Figuren Stifters darin gleichen, so setzt Stifter mit dem jeweils unterschiedlichen Ausgang der Bildungsgeschichten verschiedene Akzente. Nachdem ihre vollständige Integration durch Bildung beinahe abgeschlossen ist, verschwindet das braune Mädchen. Es verlässt die Familie mit den Worten „Sture Mure ist todt, und der hohe Felsen ist todt.“ Die Bedeutung der Worte bleibt unklar. Der Umstand jedoch, dass das braune Mädchen gänzlich aus dem Leben der Familie verschwindet und auch sonst von niemandem mehr gesehen wird, lässt darauf schließen, dass am Ende dieses Bildungsprozesses eine Verlusterfahrung steht, ein Verlust von Identität, Herkunft und jener besonderen Charakteristik des Volksglaubens an die Natur, das Märchen und den Mythos.

Juliana aus Stifters Waldbrunnen durchläuft einen ähnlichen Prozess durch Bildung wie das braune Mädchen. Einst ein wildes Mädchen entwickelt sich Juliana mittels der gezielten Bildung Heikuns über Jahre hin zu einer jungen bürgerlichen Dame. Am Ende steht sogar in Form einer bürgerlichen Hochzeit die vermeintlich vollständige Integration Julianas in die bürgerliche Welt. Im Gegensatz zu dem braunen Mädchen schafft es Juliana, sich in der klassisch gebildeten Sprache einen Ort zu schaffen, der einerseits in der Lage ist ihre Herkunft zu bewahren, andererseits es ihr ermöglicht, in jener Sprache eine eigene Bildungsprogrammatik zu entwerfen. In leicht veränderter Form zitiert Juliana die Schlußverse aus Goethes Prometheus: „Ich bilde Menschen, Dein nicht zu achten, wie ich!“

Das Fazit der Analyse -Rettung vor Bildung, statt Rettung durch Bildung – macht deutlich, dass Stifter das integrative Moment von Bildung durchaus in seiner ganzen Ambivalenz gesehen und gezeichnet hat. Stifter deutet in allen drei Erzählungen an, dass Bildung – überwiegend als Fremdbildung/ Erziehung verstanden – immer auf Kosten eines einzigartigen Merkmals (Ursprünglichkeit, Exotik, Natur, Mythos, Märchen) geschieht. Weiblichkeit fungiert hier demnach in allen drei Erzählungen als geschlechtsgebundenes postromantisches Reservoir. Trotz der Gefahr, mit Bildung distinguierende Merkmale auszulöschen, wählt Stifter für alle drei Erzählungen den Weg der Bildung. Jene bleibt für ihn das einzig denkbare Mittel, um gesellschaftspolitischen Unwegbarkeiten zu begegnen und die Kontrolle über kontingente Ereignisse zu minimieren.