Dienstag, 14. Juli 2015
Glanz statt Bildung - Irmgard Keuns "Kunstseidenes Mädchen"
Wie in Stifters "Wilden Mädchen" verbinden sich in Irmgard Keuns "Kunstseidenem Mächen" die Thematiken Weiblichkeit und Bildung. Und wie bereits in Stifters Erzählungen des 19. Jahrhunderts wird auch im 20. Jahrhundert Bildung im Medium der Literatur verhandelt.
Imgard Keuns Kunstseidenes Mädchen stellt von Anfang an die Möglichkeit der Integration durch Bildung ad absurdum. Die Protagonistin Doris weiß um ihre nicht vorhandene Bildung. Allerdings spielt sie zur Erreichung ihrer Lebensziele auch keine Rolle.
Der Roman Irmgard Keuns spielt in den 1920er Jahren. Zu jener Zeit hatte sich bereits ein neues Frauenbild begonnen zu etablieren. Der Typus der Angestellte zeichne einen niedrigen Bildungsstand aus, die trotz dieses Mankos den immer gesteigerten Anforderungen patriarchaler Strukturen nachzukommen habe. Doris fungiert als eben jener Frauentypus. Einerseits desillusioniert bodenständig, andererseits jedoch von Glamour und Reichtum in einer Welt voll Glanz träumend. Doris möchte ein Glanz werden:
Zoologischer Garten Berlin Mamorsaal zur Filmpremiere von Nosferatu um 1900
„Ein Mann aus der Großindustrie hatte mich [Doris] eingeladen, indem er im Schauspielhaus Freikarten holte beim Portier für morgen, denn wer Geld hat, hat Beziehungen und braucht nicht zu zahlen. Man kann furchtbar billig leben, wenn man reich ist. Und sprach mit mir und lud mich ein, weil er mich als fertige Künstlerin sah. Ich will eine werden. Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris. Und die Leute achten mich hoch, weil ich ein Glanz bin, und werden es dann wunderbar finden, wenn ich nicht weiß, was eine Kapazität ist, und nicht runter lachen kann auf mich wie heute [.].“
Siegfried Kracauer hat in seinem Essay Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino den Typus der weiblichen Angestellten aufgrund ihrer fehlenden Bildung von Grund auf pejorativ und marginalisierend dargestellt. Er unterstellt in diesem Essay jenen Frauen, dass diese mit ihrem naiven Medienbewusstsein das politische Bewusstsein untergraben. Die fehlende Bildung berechtige zudem die Frauen nicht, an den Errungenschaften der modernen Welt teilzuhaben: Folglich fungiert im Falle Kracauers die Bildung als eindeutig exkludierendes Element. Keine Bildung ist gleich bedeutend mit dem Absprechen, produktiver Teil der Gesellschaft zu sein.
Statt sich hingegen jedoch mit allen Mitteln Bildung anzueignen, um den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen, besteht Doris auf ihre exkludierte, von einer gesicherten und angesehenen Existenz weit entfernten Stellung innerhalb der Gesellschaft. Mit ihrem Hunger nach Teilhabe an dem Luxus und den Annehmlichkeiten der gehobenen Gesellschaftsschicht ist Doris bereit, viel Risiko auf sich zu nehmen. Für ihr Bedürfnis nach Glanz prostituiert sich Doris letztendlich.
Doris mangelt es an einer klassisch bürgerlichen Bildung, ihre Ausdrucksformen sind scheinbar einfach. Der Text spiegelt dies an der Oberfläche dadurch wieder, dass er in der Form als eine Art „Kleinmädchentagebuch“ erscheint:
„Und habe mir ein schwarzes, dickes Heft gekauft und ausgeschnittne weiße Tauben draufgeklebt und möchte einen Anfang schreiben: Ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren. Wir leben im Jahre 1931. Morgen schreibe ich mehr.“
Passend zu diesem Genre ist die Sprache - trotz der Verschriftlichung von Gedanken und Ereignissen - eindeutig oral geprägt. Dies wird immer wieder durch Inversionen von Satzgliedern, durch parataktische Satzverknüpfungen und an einfachen Hauptsätzen deutlich. Der Sprache der Gebildeten nicht mächtig, etabliert Doris jedoch einen eigenen kulturellen Code und erhebt diesen zum einzig wahren.
Dass Doris ihren Mangel an Bildung nicht als Manko erlebt, liegt auch daran, dass Doris ihre Umwelt nicht durch das Prisma Bildung wahrnimmt. Ihr Prisma ist die Pop- und Konsumkultur. Jene versetzt Doris in einen sinnlich-ästhetischen Rausch. Die neue Ästhetik jener Pop- und Konsumkultur, der Doris frönt, wird analog zur Bildung als neues Ausschlusskriterium zwischen einem Oben und einem Unten der Gesellschaft etabliert. Der Unterschied zum Exklusionsfaktor Bildung besteht darin, dass Doris nun oben in der Gesellschaftspyramide angekommen ist, an deren Spitze sie sich selbst katapultiert hat. Auch im Text wird die neue Ästhetik auf formaler Ebene anhand des filmischen Schreibens realisiert:
„Was hast du gesehen?“ „Ich habe gesehen – ein Mann mit einem Plakat um den Hals: ‚Ich nehme jede Arbeit an’- und ‚jede’ dreimal rot unterstrichen – und ein böser Mund, der zog sich nach unten mehr und mehr – es gab ihm eine Frau zehn Pfennig, die waren gelb, und er rollte sie auf das Pflaster, das Schein hat durch Reklame von Kinos und Lokalen. Und das Plakat war weiß mit schwarz drauf. Und viele Zeitungen und sehr bunt und das Tempo rosa-lila und Nachtausgabe mit rotem Strich und ein gelber Querschnitt – und sehe das Kempinsky mit edlem Holz und Taxis davor mit weißen Karos und Chauffeure mit eingeknicktem Kopf, weil sie ja immer warten. Und von innen Spiegel und was von Klub. Und Menschen eilen. Und Vorgärten von Kaffees, die sind ein Winter und drinnen Musik. Und auch mal Bars und ein großes Licht hoch über der Erde von Kupferberg Sekt – und einer mit Streichhölzern und auf der Erde mit schwarzen Beinen – quer übers Pflaster und Schachteln von Streichhölzern, die sind blau mit weiß und kleiner roter Rand-“3
Doris leiht dem blinden Mann Brenner ihre Augen. Jener ist aufgrund seiner Erblindung an die ärmliche Wohnung und an seine lieblose Frau gebunden. Um seine Wohnung zumindest in seiner Vorstellung verlassen zu können, bittet er Doris, für ihn Berlin in all seinen Facetten und mit ihren Augen aufzunehmen. Doris’ Auge funktioniert wie eine Kamera. Nicht auf die Leinwand gebannt, sondern auf Doris Netzhaut laufen Szenen des Berlin der 20er Jahre vor dem geistigen Auge von Herrn Brenner ab. Auch wenn von Maren Lickhardt der Begriff der Figur für Doris als unzutreffend beschrieben wurde, die Figur bestehe nur aus Versatzstücke unterschiedlicher Diskurse über das Weibliche, so bildet Doris ähnlich der Figuren Adalbert Stifters ein poetologisches Reflexionspotential aus.
Einerseits betreibt Doris in ihrem Kult um Pop und Konsum gezielt den Ausschluss der Gebildeten aus der Gesellschaft. Mit ihrer Auffassung von Bildung, erstens als eine Art Mangelvergnügen, das nicht gegen den sinnlichen Genuss des Luxus ankommt, und zweitens jene als Illusion und Utopie kennzeichnend, entlarvt sie zudem die Doppelmoral der Bildung wie auch ihres Mediums. Gerade aufgrund Doris' Absage an Bildung als ein nicht lohnendes Investitionsgut spricht man in der Forschungsliteratur im Falle des kunstseidenen Mädchens von einem Anti-Bildungsroman. Anderseits sieht Keun den integrativen Charakter der Pop- und Konsumkultur als Massenphänomen voraus.