Rache in der Literatur: Euripides "Medea" versus Christa Wolfs "Medea.Stimmen"
Es gibt unzählige Beispiele in der Literatur, die von Rache handeln. Sei es die Geschichte von der Jüdin Ester im gleichnamigen Buch des Alten Testaments, Adam Mieckiewicz "Konrad Wallenrod", Gogols "strastnaja miest", Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas", "The Giaur" von Byron oder Ismail Kadares "Der zerissene April". Heute soll es uns jedoch um zwei andere Werke gehen. Zwei Werke mit demselben Motiv, nur dass die beiden Werke fast 2500 Jahre trennen.

Was kann uns die Antike heute noch lehren? Was sagen uns die antiken Mythen über unsere Gegenwart? Euripides erschafft in seinem antiken Drama "Medea" für uns eine recht fremde Welt. Medea, eine Königstochter aus Kolchis, verrät ihren Vater und ihr Volk, um dem Fremden Jason bei der Entwendung des goldenen Vlies zu helfen. Medea, die aus gemalt von Anselm Feuerbach Liebe zu Jason handelt, flieht nach diesem Verrat mit ihm auf der Argo und landet als Frau an seiner Seite im fremden Korinth. Jason wittert Aufstiegschancen und eine politische Karriere am Hof von Korinth. Obwohl er mit Medea verheiratet ist und mit ihr zwei Kinder hat, beginnt er der korinthischen Prinzessin Kreusa den Hof zu machen. Medea wittert den Verrat an ihr und ihren Kindern. Als Kreusas Vater Kreon in die Verbindung einwilligt, sinnt Medea auf Rache. Für Medea und ihre Kinder steht jedoch mehr auf dem Spiel als ihre Ehe, den Verlust ihrer Liebe. Sie muss erkennen, dass sie für den Falschen ihren Vater, ihre Herkunft und ihr Volk verraten hat. Zudem ist sie als ausländische Frau ohne Ehemann eine Frau ohne rechtlichen Schutz, ebenso ihre Kinder. Sie verliert ihren Status als ehrbare und geachtete Frau, Jason verrät ihre Liebe und sie muss um das Leben ihrer Kinder bangen. Mit Unterstützung der korinthischen Frauen beginnt sie, den Mord an Kreusa und den an ihren Kindern zu planen. Sie schenkt Kreusa zur Hochzeit ein mit Gift getränktes Kleid und Geschmeide. Medea lässt das tödliche Geschenk durch ihre arglosen Kinder überbringen. Die nichts ahnende Kreusa legt Gewand und Geschmeide an und geht elendig zugrunde. Auch ihr Vater Kreon findet beim Versuch, seine Tochter zu retten, den Tod. Medea, die weiß, dass sie aus Korinth fliehen muss, ihre Kinder jedoch gezwungen ist, zurückzulassen. Deshalb tötet sie, bevor sie auf dem Sonnenwagen ihres Großvaters, dem Sonnengott Helios, fliehen kann, ihre beiden Kinder.gemalt 1759 von Carle von Loo

Das Grundgerüst bleibt in Christa Wolfs "Medea.Stimmen" das Gleiche. Und dennoch ist alles völlig anders. Christa Wolf schafft es den Mythos Medea zu korrigieren. Es ist ein polyphoner Roman, indem in 11 Kapiteln Medea und ihr Umfeld in Korinth die Ereignisse reflektieren. Es stellt sich heraus, dass es hier nicht Medea ist, die Rache nimmt, sondern, dass an ihr alle Korinther sowie ihr persönliches Umfeld aus Neid, gekränkter Eitelkeit und aus dem einfachen Grund, weil sie als Kennerin der Wahrheit politisch nicht mehr tragbar ist, Rache nehmen. Es ist ein Roman, der auch als eine Art von Migrationsroman gelesen werden kann, indem es um die Spannungen zwischen Zentrum (Korinth) und Peripherie (Kolchis) eines antiken Weltreiches geht. Medea und die Kolcher, die sie bei ihrer Flucht mit Jason begleitet haben, müssen am eigenen Leib erfahren, wie es ist als Ausländer und Migranten mit anderen Sitten und Gebräuchen an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Immer unter dem Argwohn der Einheimischen.
Man kann diesen Roman jedoch auch als eine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft bzw. dem kapitalistischen Gesellschaftssystem lesen. Im Roman werden zwei Gesellschaftssysteme als diametral verschiedenen voneinander gegenübergestellt, das agrarisch geprägte Land der Kolcher mit ihrer Naturverbundenheit und das einzig an Geld, Profit und Prunk interessierte Korinth. Auch hier reinterpretiert Christa Wolf das goldene Vlies nicht als an sich golden. Vielmehr ist es ein ordinäres Fell, dass den Korinthern zum Goldschürfen verhelfen soll, um ihren Profit zu steigern.
Christa Wolfs Medea ist jedoch auch ein feministischer Frauenroman. Medea ist nicht wie im Euripides antikem Drama eine vom Sonnengott Helios abstammende göttliche Tochter, vor deren Bund mit den Göttern die Menschen erzittern. Sie ist vielmehr eine selbstbewusste und moderne Frau aus Fleisch und Blut, die ihren Weg zwischen Tradition und Moderne findet und geht.