Rache in der Literatur: Michael Kohlhaas reloaded. Volker Schlöndorffs Film Kohlhaas-der Rebell als Symbolfilm der 68er-Bewegung?
Darf ein Mensch, der sich selbst als außerhalb der Gesellschaft stehend betrachtet, der sich von Gesetz und Ordnung nicht mehr geschützt fühlt, den Weg der Selbstjustiz und der Rache einschlagen? Genau dieser Frage geht Heinrich von Kleist in seiner 1810 veröffentlichten Novelle „Michael Kohlhaas“ nach. Zwar spielt die Handlung um die Mitte des 16. Jahrhunderts, doch folgt die Fragestellung und die Argumentation einer Diskussion, die zur Zeit der Aufklärung mit Locke, Rousseau und anderen Philosophen im 18. Jahrhundert aufkam. Dabei scheint der Bürger Michael Kohlhaas in seinen charakterlichen Zügen bereits damals als antiquiert und unmodern, geradezu statisch. Kohlhaas als Figur ist ein Mensch, der sich in bestehende Ordnungen und Gesetze fügt, der an den Schutz des Einzelnen und seiner Rechte durch den Staat glaubt, bis er erfahren muss, dass es nicht an dem ist. Erst dann greift er selbst zu Feuer und Schwert und versucht mit Gewalt, sein Recht einzufordern, die vermeintliche Schieflage durch Gesetz und Justiz wieder herzustellen, und den an ihm und seinen Nächsten verursachten Schaden zu begleichen bzw. zu rächen. Sobald er erreicht hat, dass Justiz und Staat sich seines Falles annehmen und ihm Recht widerfahren soll, entlässt er seinen mordbrennenden Haufen und begibt sich zurück in die Obhut von Gesetz und Justiz. Trotz seiner Einsicht wird sich der Fall Kohlhaas bis zum Ende zu einer europäischen Krise sondergleichen ausgeweitet haben.

Die Frage steht im Raum, wie unter diesen Voraussetzungen Michael Kohlhaas zu einer Leitfigur der 68er Bewegung werden konnte. Eine Bewegung, die sich vehement gegen eine Rückkehr zu althergebrachten gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen zur Wehr setzte. Ging die Wahl nicht fehl? Folgt man Volker Schlöndorffs Argumentation und der Argumentation der damaligen Filmverleihe, dann muss man diese Frage mit einem Nein beantworten. In einem Interview, das Volker Schlöndorff 2010 der Süddeutschen Zeitung gab, verwies er auf die Frage, was er in diesem entscheidenden Jahr 1968 gemacht habe, genau auf seinen Mythen umwobenen Film "Kohlhaas-der Rebell". Die damaligen Filmverleihe priesen den Film und seinen gleichnamigen Protagonisten als neuen Che Guevara an. Schaut man sich die erste Filmminute an, scheint sich von Schlöndorff intendierte Stoßrichtung zu bestätigen. Als Vorspann hat Volker Schlöndorff eine Reihe von Dokumentaraufnahmen der weltweiten Protest- und Demonstrationswellen aus dem Jahr 68 zusammengeschnitten. Angefangen von Frankreich, über Japan und die USA bis hin zu Großbritannien. Auch konnte mit Anita Pallenberg in der Rolle der Katrina eine Figur der 68er-Bewegung gewonnen werden. die als Muse und Geliebte der Rolling Stones für Furore sorgte und ein Aushängeschild für sex, drugs and Rock'n Roll war.
So hat es den Anschein, dass Volker Schlöndorff seinen Michael Kohlhaas genau in diesem Kontext, als Rebell der 68er, gesehen habe wollte. Der Kontrast zu dieser Ouvertüre folgt jedoch auf dem Fuße. Nach dem Vorspann kommen gleich mehrere Kunstgriffe zum Zuge, die den Wechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit an den Ort des Geschehens vollziehen. Das Bild wird gänzlich schwarz, nur der Hufschlag mehrerer Pferde ist zu vernehmen und in diese Szenerie beginnt eine Erzählerstimme aus dem Off die folgenden Worte als Prolog zu sprechen:
„Um die Mitte des 16, Jahrhunderts lebte in Deutschland an den Ufern der Havel ein Pferdehändler Namens Michael Kohlhaas, einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. Er war der Sohn eines Schulmeisters und bis in sein 30. Lebensjahr ein ordentlicher, hart arbeitender Mann, der seine Leute anhielt ebenso fleißig, ehrlich und gehorsam zu sein. Er lebte in Frieden mit seinen Nachbarn, war stets um Ruhe und Ordnung bemüht und respektierte als bescheidener Mann die Obrigkeit des Staates. Kurz, die Welt hätte allen Grund, sein Andenken zu segnen. Aber sein bedingungsloses Bestehen auf diesen Tugenden brachte ihn in Konflikt mit der Gesellschaft und den Obrigkeiten. Das Ergebnis war Rebellion, Brandstiftung und Mord.“
Liest man diesen Prolog, dann beschleicht den Leser ein Gefühl der Unstimmigkeit. Statt Michael Kohlhaas als Rebell zu zeichnen, hat man eher den Eindruck, dass der Erzähler hier das Soziogramm eines prototypischen Deutschen der Nachkriegszeit entwirft. Fleiß, Ordnung, Gehorsam, Respekt gegenüber der Obrigkeit und Ehrlichkeit. Das sind die Eigenschaften, die uns Deutschen als Selbst- und Fremdbild bis heute stereotypisch charakterisieren. Der Eindruck, dass es um eine Art Imagekampagne der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geht, wird durch die Unterstreichung des Friedliebenden noch unterstrichen. Kohlhaas als Träger dieser Eigenschaften besteht jedoch auf diesen Eigenschaften, bleibt statisch und legt den Spießbürger bis zum Schluss nicht ab. Im Gegenteil, der Erzähler gibt ihm gerade die Schuld daran, dass sein Beharren auf diesen Eigenschaften ihn zwischen die Räder von Staat und Gesellschaft geraten lässt. Nur weil es solche Spießbürger wie Kohlhaas gibt, erhebt sich ein Teil der Gesellschaft und rebelliert. Wenn Kohlhaas nun nicht der Rebell ist, der angekündigt wurde, wer übernimmt die Rolle der Rebellen dann in dem Film? Es gibt die Rebellen, und sie sind alles andere als Vorbilder. Die von Anita Pallenberg verkörperte Katrina fungiert einerseits in ihrer negativen Zeichnung als Lagerprostituierte, die mit ihren sexuellen Diensten die Moral der raubenden und mordenden Männer um Kohlhaas aufrechterhält. Andererseits vertritt sie mit ihrem Umgang in Bezug auf Sexualität und Weiblichkeit die neue Freizügigkeit der 68er Bewegung und das neue Frauenbild. Ihr männliches Pendant ist der von dem britischen Schauspieler Michael Gothard verkörperte Soldat. Jener gehört zur übelsten Sorte in den Reihen des kohlhaaschen Kommandos. Er plündert, raubt, vergewaltigt und mordet nicht für die Gerechtigkeit und die Sache des Kohlhaas, sondern allein aus persönlicher Lust, Hab-und Hab- und Profitgier. Dies wird jenem Soldaten am Ende auch zum Verhängnis. Bei einem der Raubzüge durch die Stadt Wittenberg vergewaltigt er eine am Pfahl gefesselt Frau in einem brennenden Haus.
Anschließend lässt er sie in dem Haus verbrennen. Die Filmmusik in dieser Szene gibt einen entscheidenden Schlüssel. Die sonst Ben-Hur-artige epische Musik wechselt hier zu einer wilden Rock ‘n Roll Orgie. Am nächsten Morgen prahlt der Soldat vor seinen Kumpels mit dieser Tat. Kohlhaas kommt das zu Ohren und lässt den Soldaten dafür öffentlich, vor der gesamten Horde, hängen. Damit stellt sich Kohlhaas gegen die Mob artigen, zügellosen Teile seiner Streitmacht und setzt ein Zeichen für Ordnung und Gesetz, auch innerhalb seiner illegalen Trupps.

Am Ende bleibt die Frage, wo hat sich Schlöndorff selbst in dieser Zeit verortet, auf der Seite der konservativen Ordnung oder auf der Seite der Rebellen. War er nur deshalb nicht im entscheidenden Revolutionsjahr 68 mit unter den Demonstranten, weil er seinen Michael Kohlhaas drehte oder doch, weil er sich innerlich mit der Radikalisierung und der zunehmenden Eskalation der Gewalt nicht anfreunden konnte? Übt er mit diesem Film nicht Kritik an einer Anarchie der Zustände? Zumindest ist er bei aller cineastischen Unkonventionalität dem Kleistschen Original sehr verbunden geblieben.