Rache in der Literatur: Das Buch Ester und die politische Rache eines Volkes in der Diaspora
Die Bibel kann auf vielfältige Weise betrachtet werden. Ist sie für viele Menschen die heilige Schrift, das Wort Gottes, so kann man sie auch aus feministischer, befreiungstheologischer, psychologischer Perspektive oder eben einfach auch als Literatur betrachten. Streng genommen ist die Bibel nicht ein Buch, sondern eine über Jahrhunderte gewachsene, kanonische Zusammenstellung verschiedener Bücher.

Das Buch Ester ist eine relativ späte Erzählung des Alten Testaments aus hellenistischer Zeit. Die genaue Datierung gestaltet sich schwierig, da es drei Textfassungen gibt. In der Einheitsübersetzung ist die Langfassung der Septuaginta abgedruckt. Auch wenn Ester zu den Büchern der Geschichte zählt, so wird im Buch Ester keine einmalige historische Begebenheit erzählt. Vielmehr handelt es sich beim Buch Ester um eine Aktualisierung der jüdischen Diasporaerfahung im Spiegel ihrer drohenden, kollektiven Vernichtung.
Die Juden als Volk sind eine ethnische Minderheit im persischen Weltreich. Mit der Zerstörung des Tempels, der Eroberung Jerusalems und der Deportation der jüdischen Oberschicht durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. begann für das jüdische Volk die Zeit der Diaspora. Das sich anschließende persische Weltreich gilt in der jüdischen Geschichte als relativ friedliche Zeit, da neben der Einrichtung der Unterprovinz Juda mit Jerusalem auch der Wiederaufbau des Tempels und die Rückkehr der Deportierten gestattet wurde. Allein schon vor diesem Hintergrund scheint ein Szenario, wie es im Buch Ester geschildert wird, eher unwahrscheinlich.
Der Beginn der Erzählung bildet die Vorgeschichte zur eigentlichen Erzählung um die Protagonistin Ester. Die persische Königin Waschti wird vom persischen Hof verbannt, da sie sich der Anordnung des persischen Königs Ahashveros (Xerxes I.) verweigert, sich bei einem höfischen Großfest und Gelage den männlichen Würden - und Amtsträgern des persischen Reiches zu zeigen. Ahashveros, der sich gedemütigt fühlt und zudem seine Autorität sowie die Autorität aller Männer im persischen Reich untergraben und gefährdet sieht, verbannt daraufhin seine Königin des Hofes und begibt sich auf die landesweite Suche nach einer neuen Königin. Der Jude Mordechai wittert eine Chance für sein Volk und lässt seine Adoptivtochter als potentielle Braut und persische Königin zum Hofe bringen. Vorher gibt er ihr noch den Rat, ihre jüdische Identität nicht preis zugeben. Deshalb bekommt sie den Namen Ester (das Verborgene). Der Name Ester ist aber auch in theologischer Hinsicht programmatisch, da Ester ein Buch des Gottesschweigens, des Sich-verbergenden-Gottes ist.
Ester und Mordechai. Stahlstich nach einem Gemälde von Aert de Gelder, Gemäldegalerie Dresden Alte Meister
Nach einem Jahr der Vorbereitung im Harem des persischen Königs erwählt Ahashveros Ester tatsächlich zur persischen Königin. Am persischen Hof beginnen sich gegen die Juden im Land politische Intrigen und Hass zu formieren. Nachdem Mordechai einen Komplott gegen den König aufdeckt, wird er zum Großwesir des persischen Reiches ernannt. Der Amalekiter Haman versucht dem sich steigernden Einfluss des Juden Mordechai ein Ende zu machen und seinen politischen Gegner zu liquidieren. Mordechai soll am Anfang der Kette jüdischer Opfer stehen. In einem weiteren Schritt soll ein königlicher Erlass den kollektiven Mord an den Juden im persischen Weltreich legitimieren. Der König, der von den wahren Absichten Hamans nichts weiß und ihm vertraut, lässt ihn gewähren. Mordechai durchschaut den Plan und begibt sich zu Ester, um sie um ihre Fürsprache beim persischen König zu bitten und den Verrat Hamans aufzudecken. Am Ende gelingt Ester das Unmögliche. Anstatt Mordechai landet Haman mit seinen Söhnen am Galgen und am Tage des jüdischen Pogroms rächen sich die Juden im gesamten persischen Reich an allen Widersachern ihres Volkes, die geplant hatten, sich an dem Mord an den Juden zu beteiligen.
Im Prinzip ist das Buch Ester eine Art counter-history, die die Geschichte nicht aus der Sicht der Sieger, sondern aus der Sicht der Besiegten erzählt.
Ester ist oft der Vorwurf gemacht worden, im Gegensatz zu Judith keine emanzipierte Frau darzustellen, da sie lediglich das Werkzeug ihres Adoptivvaters Mordechai zu sein scheint. Dabei kann man das Buch Ester auch als Erneuerung der Josefgeschichte ansehen, in der jedoch die Heldenfigur auf zwei Protagonisten, Ester und Mordechai aufgeteilt wird.
Eine weitere Frage steht im Raum, ob Adam Mieckiewicz das Buch Ester als Prätext für seinen „Konrad Wallenrod“ gesehen hat. Damit wäre Ester der Wolf im Schafspelz, der sich unerkannt unter seine politischen Gegner mischt und sie von innen mit ihren eigenen Waffen besiegt. Für diese These spricht, dass sich Ester während ihrer Zeit der Vorbereitung im königlichem Harem und auch als persische Königin nicht den Sitten und Gebräuchen der Perser anpasst, sondern ihrer Kultur und ihrem Glauben treu bleibt. Sie bleibt Jüdin, sie bleibt rein.