Samstag, 8. März 2014
Rache in der Literatur: Das Buch Ester und die politische Rache eines Volkes in der Diaspora
Die Bibel kann auf vielfältige Weise betrachtet werden. Ist sie für viele Menschen die heilige Schrift, das Wort Gottes, so kann man sie auch aus feministischer, befreiungstheologischer, psychologischer Perspektive oder eben einfach auch als Literatur betrachten. Streng genommen ist die Bibel nicht ein Buch, sondern eine über Jahrhunderte gewachsene, kanonische Zusammenstellung verschiedener Bücher.

Das Buch Ester ist eine relativ späte Erzählung des Alten Testaments aus hellenistischer Zeit. Die genaue Datierung gestaltet sich schwierig, da es drei Textfassungen gibt. In der Einheitsübersetzung ist die Langfassung der Septuaginta abgedruckt. Auch wenn Ester zu den Büchern der Geschichte zählt, so wird im Buch Ester keine einmalige historische Begebenheit erzählt. Vielmehr handelt es sich beim Buch Ester um eine Aktualisierung der jüdischen Diasporaerfahung im Spiegel ihrer drohenden, kollektiven Vernichtung.
Die Juden als Volk sind eine ethnische Minderheit im persischen Weltreich. Mit der Zerstörung des Tempels, der Eroberung Jerusalems und der Deportation der jüdischen Oberschicht durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. begann für das jüdische Volk die Zeit der Diaspora. Das sich anschließende persische Weltreich gilt in der jüdischen Geschichte als relativ friedliche Zeit, da neben der Einrichtung der Unterprovinz Juda mit Jerusalem auch der Wiederaufbau des Tempels und die Rückkehr der Deportierten gestattet wurde. Allein schon vor diesem Hintergrund scheint ein Szenario, wie es im Buch Ester geschildert wird, eher unwahrscheinlich.
Der Beginn der Erzählung bildet die Vorgeschichte zur eigentlichen Erzählung um die Protagonistin Ester. Die persische Königin Waschti wird vom persischen Hof verbannt, da sie sich der Anordnung des persischen Königs Ahashveros (Xerxes I.) verweigert, sich bei einem höfischen Großfest und Gelage den männlichen Würden - und Amtsträgern des persischen Reiches zu zeigen. Ahashveros, der sich gedemütigt fühlt und zudem seine Autorität sowie die Autorität aller Männer im persischen Reich untergraben und gefährdet sieht, verbannt daraufhin seine Königin des Hofes und begibt sich auf die landesweite Suche nach einer neuen Königin. Der Jude Mordechai wittert eine Chance für sein Volk und lässt seine Adoptivtochter als potentielle Braut und persische Königin zum Hofe bringen. Vorher gibt er ihr noch den Rat, ihre jüdische Identität nicht preis zugeben. Deshalb bekommt sie den Namen Ester (das Verborgene). Der Name Ester ist aber auch in theologischer Hinsicht programmatisch, da Ester ein Buch des Gottesschweigens, des Sich-verbergenden-Gottes ist.
Ester und Mordechai. Stahlstich nach einem Gemälde von Aert de Gelder, Gemäldegalerie Dresden Alte Meister
Nach einem Jahr der Vorbereitung im Harem des persischen Königs erwählt Ahashveros Ester tatsächlich zur persischen Königin. Am persischen Hof beginnen sich gegen die Juden im Land politische Intrigen und Hass zu formieren. Nachdem Mordechai einen Komplott gegen den König aufdeckt, wird er zum Großwesir des persischen Reiches ernannt. Der Amalekiter Haman versucht dem sich steigernden Einfluss des Juden Mordechai ein Ende zu machen und seinen politischen Gegner zu liquidieren. Mordechai soll am Anfang der Kette jüdischer Opfer stehen. In einem weiteren Schritt soll ein königlicher Erlass den kollektiven Mord an den Juden im persischen Weltreich legitimieren. Der König, der von den wahren Absichten Hamans nichts weiß und ihm vertraut, lässt ihn gewähren. Mordechai durchschaut den Plan und begibt sich zu Ester, um sie um ihre Fürsprache beim persischen König zu bitten und den Verrat Hamans aufzudecken. Am Ende gelingt Ester das Unmögliche. Anstatt Mordechai landet Haman mit seinen Söhnen am Galgen und am Tage des jüdischen Pogroms rächen sich die Juden im gesamten persischen Reich an allen Widersachern ihres Volkes, die geplant hatten, sich an dem Mord an den Juden zu beteiligen.
Im Prinzip ist das Buch Ester eine Art counter-history, die die Geschichte nicht aus der Sicht der Sieger, sondern aus der Sicht der Besiegten erzählt.
Ester ist oft der Vorwurf gemacht worden, im Gegensatz zu Judith keine emanzipierte Frau darzustellen, da sie lediglich das Werkzeug ihres Adoptivvaters Mordechai zu sein scheint. Dabei kann man das Buch Ester auch als Erneuerung der Josefgeschichte ansehen, in der jedoch die Heldenfigur auf zwei Protagonisten, Ester und Mordechai aufgeteilt wird.
Eine weitere Frage steht im Raum, ob Adam Mieckiewicz das Buch Ester als Prätext für seinen „Konrad Wallenrod“ gesehen hat. Damit wäre Ester der Wolf im Schafspelz, der sich unerkannt unter seine politischen Gegner mischt und sie von innen mit ihren eigenen Waffen besiegt. Für diese These spricht, dass sich Ester während ihrer Zeit der Vorbereitung im königlichem Harem und auch als persische Königin nicht den Sitten und Gebräuchen der Perser anpasst, sondern ihrer Kultur und ihrem Glauben treu bleibt. Sie bleibt Jüdin, sie bleibt rein.



Samstag, 22. Februar 2014
Rache in der Literatur: Michael Kohlhaas reloaded. Volker Schlöndorffs Film Kohlhaas-der Rebell als Symbolfilm der 68er-Bewegung?
Darf ein Mensch, der sich selbst als außerhalb der Gesellschaft stehend betrachtet, der sich von Gesetz und Ordnung nicht mehr geschützt fühlt, den Weg der Selbstjustiz und der Rache einschlagen? Genau dieser Frage geht Heinrich von Kleist in seiner 1810 veröffentlichten Novelle „Michael Kohlhaas“ nach. Zwar spielt die Handlung um die Mitte des 16. Jahrhunderts, doch folgt die Fragestellung und die Argumentation einer Diskussion, die zur Zeit der Aufklärung mit Locke, Rousseau und anderen Philosophen im 18. Jahrhundert aufkam. Dabei scheint der Bürger Michael Kohlhaas in seinen charakterlichen Zügen bereits damals als antiquiert und unmodern, geradezu statisch. Kohlhaas als Figur ist ein Mensch, der sich in bestehende Ordnungen und Gesetze fügt, der an den Schutz des Einzelnen und seiner Rechte durch den Staat glaubt, bis er erfahren muss, dass es nicht an dem ist. Erst dann greift er selbst zu Feuer und Schwert und versucht mit Gewalt, sein Recht einzufordern, die vermeintliche Schieflage durch Gesetz und Justiz wieder herzustellen, und den an ihm und seinen Nächsten verursachten Schaden zu begleichen bzw. zu rächen. Sobald er erreicht hat, dass Justiz und Staat sich seines Falles annehmen und ihm Recht widerfahren soll, entlässt er seinen mordbrennenden Haufen und begibt sich zurück in die Obhut von Gesetz und Justiz. Trotz seiner Einsicht wird sich der Fall Kohlhaas bis zum Ende zu einer europäischen Krise sondergleichen ausgeweitet haben.

Die Frage steht im Raum, wie unter diesen Voraussetzungen Michael Kohlhaas zu einer Leitfigur der 68er Bewegung werden konnte. Eine Bewegung, die sich vehement gegen eine Rückkehr zu althergebrachten gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen zur Wehr setzte. Ging die Wahl nicht fehl? Folgt man Volker Schlöndorffs Argumentation und der Argumentation der damaligen Filmverleihe, dann muss man diese Frage mit einem Nein beantworten. In einem Interview, das Volker Schlöndorff 2010 der Süddeutschen Zeitung gab, verwies er auf die Frage, was er in diesem entscheidenden Jahr 1968 gemacht habe, genau auf seinen Mythen umwobenen Film "Kohlhaas-der Rebell". Die damaligen Filmverleihe priesen den Film und seinen gleichnamigen Protagonisten als neuen Che Guevara an. Schaut man sich die erste Filmminute an, scheint sich von Schlöndorff intendierte Stoßrichtung zu bestätigen. Als Vorspann hat Volker Schlöndorff eine Reihe von Dokumentaraufnahmen der weltweiten Protest- und Demonstrationswellen aus dem Jahr 68 zusammengeschnitten. Angefangen von Frankreich, über Japan und die USA bis hin zu Großbritannien. Auch konnte mit Anita Pallenberg in der Rolle der Katrina eine Figur der 68er-Bewegung gewonnen werden. die als Muse und Geliebte der Rolling Stones für Furore sorgte und ein Aushängeschild für sex, drugs and Rock'n Roll war.
So hat es den Anschein, dass Volker Schlöndorff seinen Michael Kohlhaas genau in diesem Kontext, als Rebell der 68er, gesehen habe wollte. Der Kontrast zu dieser Ouvertüre folgt jedoch auf dem Fuße. Nach dem Vorspann kommen gleich mehrere Kunstgriffe zum Zuge, die den Wechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit an den Ort des Geschehens vollziehen. Das Bild wird gänzlich schwarz, nur der Hufschlag mehrerer Pferde ist zu vernehmen und in diese Szenerie beginnt eine Erzählerstimme aus dem Off die folgenden Worte als Prolog zu sprechen:
„Um die Mitte des 16, Jahrhunderts lebte in Deutschland an den Ufern der Havel ein Pferdehändler Namens Michael Kohlhaas, einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. Er war der Sohn eines Schulmeisters und bis in sein 30. Lebensjahr ein ordentlicher, hart arbeitender Mann, der seine Leute anhielt ebenso fleißig, ehrlich und gehorsam zu sein. Er lebte in Frieden mit seinen Nachbarn, war stets um Ruhe und Ordnung bemüht und respektierte als bescheidener Mann die Obrigkeit des Staates. Kurz, die Welt hätte allen Grund, sein Andenken zu segnen. Aber sein bedingungsloses Bestehen auf diesen Tugenden brachte ihn in Konflikt mit der Gesellschaft und den Obrigkeiten. Das Ergebnis war Rebellion, Brandstiftung und Mord.“
Liest man diesen Prolog, dann beschleicht den Leser ein Gefühl der Unstimmigkeit. Statt Michael Kohlhaas als Rebell zu zeichnen, hat man eher den Eindruck, dass der Erzähler hier das Soziogramm eines prototypischen Deutschen der Nachkriegszeit entwirft. Fleiß, Ordnung, Gehorsam, Respekt gegenüber der Obrigkeit und Ehrlichkeit. Das sind die Eigenschaften, die uns Deutschen als Selbst- und Fremdbild bis heute stereotypisch charakterisieren. Der Eindruck, dass es um eine Art Imagekampagne der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geht, wird durch die Unterstreichung des Friedliebenden noch unterstrichen. Kohlhaas als Träger dieser Eigenschaften besteht jedoch auf diesen Eigenschaften, bleibt statisch und legt den Spießbürger bis zum Schluss nicht ab. Im Gegenteil, der Erzähler gibt ihm gerade die Schuld daran, dass sein Beharren auf diesen Eigenschaften ihn zwischen die Räder von Staat und Gesellschaft geraten lässt. Nur weil es solche Spießbürger wie Kohlhaas gibt, erhebt sich ein Teil der Gesellschaft und rebelliert. Wenn Kohlhaas nun nicht der Rebell ist, der angekündigt wurde, wer übernimmt die Rolle der Rebellen dann in dem Film? Es gibt die Rebellen, und sie sind alles andere als Vorbilder. Die von Anita Pallenberg verkörperte Katrina fungiert einerseits in ihrer negativen Zeichnung als Lagerprostituierte, die mit ihren sexuellen Diensten die Moral der raubenden und mordenden Männer um Kohlhaas aufrechterhält. Andererseits vertritt sie mit ihrem Umgang in Bezug auf Sexualität und Weiblichkeit die neue Freizügigkeit der 68er Bewegung und das neue Frauenbild. Ihr männliches Pendant ist der von dem britischen Schauspieler Michael Gothard verkörperte Soldat. Jener gehört zur übelsten Sorte in den Reihen des kohlhaaschen Kommandos. Er plündert, raubt, vergewaltigt und mordet nicht für die Gerechtigkeit und die Sache des Kohlhaas, sondern allein aus persönlicher Lust, Hab-und Hab- und Profitgier. Dies wird jenem Soldaten am Ende auch zum Verhängnis. Bei einem der Raubzüge durch die Stadt Wittenberg vergewaltigt er eine am Pfahl gefesselt Frau in einem brennenden Haus.
Anschließend lässt er sie in dem Haus verbrennen. Die Filmmusik in dieser Szene gibt einen entscheidenden Schlüssel. Die sonst Ben-Hur-artige epische Musik wechselt hier zu einer wilden Rock ‘n Roll Orgie. Am nächsten Morgen prahlt der Soldat vor seinen Kumpels mit dieser Tat. Kohlhaas kommt das zu Ohren und lässt den Soldaten dafür öffentlich, vor der gesamten Horde, hängen. Damit stellt sich Kohlhaas gegen die Mob artigen, zügellosen Teile seiner Streitmacht und setzt ein Zeichen für Ordnung und Gesetz, auch innerhalb seiner illegalen Trupps.

Am Ende bleibt die Frage, wo hat sich Schlöndorff selbst in dieser Zeit verortet, auf der Seite der konservativen Ordnung oder auf der Seite der Rebellen. War er nur deshalb nicht im entscheidenden Revolutionsjahr 68 mit unter den Demonstranten, weil er seinen Michael Kohlhaas drehte oder doch, weil er sich innerlich mit der Radikalisierung und der zunehmenden Eskalation der Gewalt nicht anfreunden konnte? Übt er mit diesem Film nicht Kritik an einer Anarchie der Zustände? Zumindest ist er bei aller cineastischen Unkonventionalität dem Kleistschen Original sehr verbunden geblieben.



Samstag, 15. Februar 2014
Rache in der Literatur: Euripides "Medea" versus Christa Wolfs "Medea.Stimmen"
Es gibt unzählige Beispiele in der Literatur, die von Rache handeln. Sei es die Geschichte von der Jüdin Ester im gleichnamigen Buch des Alten Testaments, Adam Mieckiewicz "Konrad Wallenrod", Gogols "strastnaja miest", Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas", "The Giaur" von Byron oder Ismail Kadares "Der zerissene April". Heute soll es uns jedoch um zwei andere Werke gehen. Zwei Werke mit demselben Motiv, nur dass die beiden Werke fast 2500 Jahre trennen.

Was kann uns die Antike heute noch lehren? Was sagen uns die antiken Mythen über unsere Gegenwart? Euripides erschafft in seinem antiken Drama "Medea" für uns eine recht fremde Welt. Medea, eine Königstochter aus Kolchis, verrät ihren Vater und ihr Volk, um dem Fremden Jason bei der Entwendung des goldenen Vlies zu helfen. Medea, die aus gemalt von Anselm Feuerbach Liebe zu Jason handelt, flieht nach diesem Verrat mit ihm auf der Argo und landet als Frau an seiner Seite im fremden Korinth. Jason wittert Aufstiegschancen und eine politische Karriere am Hof von Korinth. Obwohl er mit Medea verheiratet ist und mit ihr zwei Kinder hat, beginnt er der korinthischen Prinzessin Kreusa den Hof zu machen. Medea wittert den Verrat an ihr und ihren Kindern. Als Kreusas Vater Kreon in die Verbindung einwilligt, sinnt Medea auf Rache. Für Medea und ihre Kinder steht jedoch mehr auf dem Spiel als ihre Ehe, den Verlust ihrer Liebe. Sie muss erkennen, dass sie für den Falschen ihren Vater, ihre Herkunft und ihr Volk verraten hat. Zudem ist sie als ausländische Frau ohne Ehemann eine Frau ohne rechtlichen Schutz, ebenso ihre Kinder. Sie verliert ihren Status als ehrbare und geachtete Frau, Jason verrät ihre Liebe und sie muss um das Leben ihrer Kinder bangen. Mit Unterstützung der korinthischen Frauen beginnt sie, den Mord an Kreusa und den an ihren Kindern zu planen. Sie schenkt Kreusa zur Hochzeit ein mit Gift getränktes Kleid und Geschmeide. Medea lässt das tödliche Geschenk durch ihre arglosen Kinder überbringen. Die nichts ahnende Kreusa legt Gewand und Geschmeide an und geht elendig zugrunde. Auch ihr Vater Kreon findet beim Versuch, seine Tochter zu retten, den Tod. Medea, die weiß, dass sie aus Korinth fliehen muss, ihre Kinder jedoch gezwungen ist, zurückzulassen. Deshalb tötet sie, bevor sie auf dem Sonnenwagen ihres Großvaters, dem Sonnengott Helios, fliehen kann, ihre beiden Kinder.gemalt 1759 von Carle von Loo

Das Grundgerüst bleibt in Christa Wolfs "Medea.Stimmen" das Gleiche. Und dennoch ist alles völlig anders. Christa Wolf schafft es den Mythos Medea zu korrigieren. Es ist ein polyphoner Roman, indem in 11 Kapiteln Medea und ihr Umfeld in Korinth die Ereignisse reflektieren. Es stellt sich heraus, dass es hier nicht Medea ist, die Rache nimmt, sondern, dass an ihr alle Korinther sowie ihr persönliches Umfeld aus Neid, gekränkter Eitelkeit und aus dem einfachen Grund, weil sie als Kennerin der Wahrheit politisch nicht mehr tragbar ist, Rache nehmen. Es ist ein Roman, der auch als eine Art von Migrationsroman gelesen werden kann, indem es um die Spannungen zwischen Zentrum (Korinth) und Peripherie (Kolchis) eines antiken Weltreiches geht. Medea und die Kolcher, die sie bei ihrer Flucht mit Jason begleitet haben, müssen am eigenen Leib erfahren, wie es ist als Ausländer und Migranten mit anderen Sitten und Gebräuchen an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Immer unter dem Argwohn der Einheimischen.
Man kann diesen Roman jedoch auch als eine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft bzw. dem kapitalistischen Gesellschaftssystem lesen. Im Roman werden zwei Gesellschaftssysteme als diametral verschiedenen voneinander gegenübergestellt, das agrarisch geprägte Land der Kolcher mit ihrer Naturverbundenheit und das einzig an Geld, Profit und Prunk interessierte Korinth. Auch hier reinterpretiert Christa Wolf das goldene Vlies nicht als an sich golden. Vielmehr ist es ein ordinäres Fell, dass den Korinthern zum Goldschürfen verhelfen soll, um ihren Profit zu steigern.
Christa Wolfs Medea ist jedoch auch ein feministischer Frauenroman. Medea ist nicht wie im Euripides antikem Drama eine vom Sonnengott Helios abstammende göttliche Tochter, vor deren Bund mit den Göttern die Menschen erzittern. Sie ist vielmehr eine selbstbewusste und moderne Frau aus Fleisch und Blut, die ihren Weg zwischen Tradition und Moderne findet und geht.